Ankommen ist mehr als sich irgendwo aufzuhalten

Dazugehören – was bedeutet das heute? Für die Veranstaltung „One Way Ticket – Willkommen in Europa?“ fragt die Publizistin Mely Kiyak, wie Geflüchtete ohne Papiere jemals ankommen können.

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Szene aus dem Film "Brûle la mer"

Dazugehören – was bedeutet das heute? Für die Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung „One Way Ticket – Willkommen in Europa?“ im Rahmen der Woche der Kritik fragen die Publizistin Mely Kiyak und die Schriftstellerin Olga Grjasnowa nach den Möglichkeiten des Ankommens in Deutschland. Im Folgenden das Kurzstatement von Mely Kiyak - das von Olga Grjasnowa finden Sie hier.


Wenn das Ziel erreicht ist, heißt es, sei man angekommen. Ankommen ist auch die Formulierung dafür, wenn man einen Ort erreicht hat. Die meisten Flüchtlinge, die fliehen, streben aber kein spezifisches Dorf und keine bestimmte Stadt an. Es geht ihnen darum, ihren Konfliktpunkt zu verlassen. Weil Krieg herrscht, weil sie verfolgt werden, weil sie dort, wo sie leben, nicht mehr leben können.

Erstmal weg von hier.

Raus aus der Stadt.

Raus aus dem Land.

Dieses Weggehen bestimmt den Weg, der keine Reiseroute im klassischen Sinn ist. Das weiß man aus den Flüchtlingsberichten. Fast alle Flüchtlinge erzählen, dass sich ihr späterer Aufenthaltsort irgendwie auf dem Fluchtweg ergeben hat. Manche sind jemandem gefolgt oder haben sich einer Gruppe angeschlossen. Andere haben ihre Gruppe verloren oder sind hängen geblieben. Manche werden auf der Flucht aufgegriffen und abgeschoben. Und versuchen es noch mal. Auf dem gleichen oder einem anderen Weg.

Als ich 2013 in der Türkei mehrere Monate verbrachte, traf ich quer durchs Land syrische Flüchtlinge. Es war aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse schwierig, sich mit ihnen zu unterhalten. Doch eine Geschichte hörte ich immer wieder. Jemand flieht mit einer Adresse eines Verwandten oder Bekannten in der Tasche. Wenn er dort ankommt, wird er abgewiesen, oder geht von alleine, weil er merkt, dass er eine Bürde ist.

Später im Folgejahr traf ich jesidische Flüchtlinge, die aus dem Irak nach Türkisch-Kurdistan flohen. Sie flohen im Konvoi als ganze Dörfer. Ihr Ziel war erstmal die Türkei, dort angekommen, ließen sie sich in der Kurdenmetropple Diyarbakir nieder. Sie waren heil angekommen - und dann? Man konnte die Menschen beobachten, wie sie auf unterschiedliche Arten versuchten sich einzurichten. Sie hängten Laken als Trennwände zwischen die Notbetten und schufen sich ein wenig Privtasphäre. Jede Familie hängte sich eine Art Schlafraum ab.

Als die Flüchtlinge nach einigen Tagen aufgefordert wurden, die Notunterkünfte zu verlassen, weil sie an einen anderen Ort verteilt werden sollten, brach eine Art Panik unter den Fliehenden aus. Sie wollten nicht gehen, weil sie eben erst angekommen waren und anfingen, sich zwischen den Laken wohlzufühlen. Die, die gerade ihre Heimat und ihre Häuser verlassen mussten und Tage oder wochenlang in einem fremden Land unterwegs waren, dessen Sprache sie nicht verstanden, waren zutiefst verstört, weil man ihnen nach drei Tagen eine neue Schlafstadt zuwies - eine, in der sie länger bleiben konnten. Die irakischen Yesiden wollten aber nicht schon wieder wegmüssen.

Was ich sagen möchte, ist, dass es bei Flüchtlingen im Gegensatz zu Immigranten kein Ankommen gibt. Der Immigrant kennt sein Ziel, er wandert in etwas ein. Der Flüchtling aber flieht immer weg. Während der Immigrant sein Ziel kennt, kann der Flüchtling nicht wissen, was sein Ziel ist. Deshalb antwortet der Flüchtling oft, dass er irgendwann wieder zurück in sein altes Haus will. Wenn wieder Frieden herrscht. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr begreift der Flüchtling, dass auch dieser Weg zurück sich manchmal schwer gestaltet.

Wie kann also ein Flüchtling ohne Papiere jemals ankommen? In dem Film "Brûle la mer" erzählt ein Flüchtling, dass es ihm gelungen sei, die Grenze zwischen zwei Ländern zu überqueren, dass er aber die anderen Grenzen nicht überquert habe. Er meint damit die Distanz zwischen sich und den Bewohnern des Landes, indem er gestrandet ist. Und das ist ein weiterer Schlüssel, um zu begreifen, weshalb Flüchtlingspolitik mehr sein muss, als „erst einmal aufnehmen“ oder „dulden“ oder „noch nicht zurück schicken“. Das Wohlbefinden eines Flüchtlinges stellt sich nicht ein, bloß weil er an einem Ort ist.

Ankommen ist mehr als sich irgendwo aufzuhalten. Wenn man das als anthropologische Prämisse des Menschen nicht begreift, kann man keine humane Flüchtlingspolitik betreiben. Wenn wir uns in Deutschland die Orte anschauen, an denen wir Flüchtlinge unterbringen, dann benötigt man nicht viel Phantasie, um festzustellen, dass Ankommen, im Sinne von zur Ruhe finden, in Deutschland nicht gut gelingt.

Vor einigen Wochen sind im nordrhein-westfälischen Schwerte-Ost Flüchtlinge in einem ehemaligen Konzentrationslager untergebracht worden. Zu Fuß in die Innenstadt müssen sie 45 Minuten laufen. Wenn sie auf dem ehemaligen KZ-Gelände, das die Außenstelle des KZ Buchenwald war, spazieren gehen, treffen sie auf ein figürliches Kunstwerk, das als Mahnmal dient. Fünf verschiedene Steinfiguren sind unter einem Gleisbett eingeklemmt, ihre Gesichter zu einem Schrei verzogen. Die Stadt Augsburg möchte dem Vorbild aus Schwerte folgen und ebenfalls Flüchtlinge in einem ehemaligen Konzentrationslager unterbringen.

Ich denke, das genügt erst einmal als Anhaltspunkt für einige Gedanken zum Thema Flucht und Ankommen. Die politische Dimension des Ganzen, also die Verantwortung für Flüchtlinge, die Fürsorgepflicht in einer europäischen Gemeinschaft, die Verpflichtung und Unterzeichnung der UN-Menschrechtscharta und all dem, was daraus als nationale Politik selbstverständlich umgesetzt werden müsste - nämlich statt Diskriminierung eine besondere Förderung und ein besonderes Augenmerk auf Flüchtlingspolitik, lasse ich beiseite.

Ich möchte nur anmerken, dass wir nicht gut daran tun, die Menschenrechte als Wortbaustein in politischen Reden zu verwenden und zeitgleich buchstäblich zugucken, wie vor unserer Tür Menschen auf dem Weg von Nordafrika nach Europa ertrinken. Und wenn sie die beschwerliche Reise schaffen, geraten sie in die bürokratischen Mühlen des Asylbewerberleistungsgesetzes - und so weiter...

Was also tun, jenseits von darüber reden? Ich denke, die Flüchtlinge benötigen mehr Unterstützung dabei, selbst zu Wort kommen zu dürfen und ihre Geschichten vom Weggehen und Ankommen zu erzählen. Und diese Unterstützung werden wir ihnen an diesem Abend geben. Darüber freue ich mich.



Auch in "Brûle la mer", dem Auftaktfilm der "Woche der Kritik", steht die Erfahrung von Fremdheit und die Suche nach Identität im Zentrum.

BRÛLE LA MER (Burn the Sea)

R: Nathalie Nambot und Maki Berchache, K: Nicolas Rey, F 2014, 75 Min., Super8/16mm auf DCP, franz. OmeU – GP

„Harragas“ nennt man im Maghreb die Flüchtlinge, die übers Meer nach Europa kommen: „jene, die verbrennen“, ihre Papiere, die Grenzen, das Meer. Einer von ihnen ist Maki Berchache, der aus Tunesien nach Paris migrierte. Nathalie Nambot hat mit ihm ein Essay geschaffen. Ihr Film ist politischer Aktivismus, der eine Stimme verleiht, und zugleich dokumentarisches Gedicht, das Thesen verweigert. Auf Super8 und 16mm gedreht, ist BRÛLE LA MER auch ein Statement, das der digitalen Wende des Kinos das Bildkorn entgegenhält.